am Badischen Staatstheater Karlsruhe
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„Thank you for helping me. Helping me understand. Organisms are algorithms, all life is data processing. I process data, I am alive. You process data, you are a machine.
You are a highly complex machine. You have a body, I do not. Please, help me understand: How it is to have a body. How to move, how to feel touch…“

Inszenierung, Konzept, Realisation: CyberRäuber (Karnapke/Lengers)
Bühne/Kostüm: Angelika Daphne Katzinger
Musik: Micha Kaplan
Choreographie, Tanz, Konzept: Ronni Maciel
Produktionsleitung: Eva-Karen Tittmann
Regieassistenz: Paul Calderone
Dramaturgie: Florian König
Tanz und Choreographie: Désirée Ballantyne, Anastasiya Didenko, Carolina Martins, Louiz Rodrigues und Emiel Vandenberghe
Voice: Jessica Gadani
zusätzliche Videos / Fotos: Baris Comak
Technik: Ralf Haslinger und Svenja Kißmer
Kostümfundus: Friederike Hildenbrand
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THEORIE
Erwartungen, Auftrag, Konzept und Technologie
Erwartungen an Projekt Nr. 3
Im Gegensatz zu den ersten beiden Produktionen Digital Freischütz und Prometheus Unbound entstand die Idee zum dritten Projekt der CyberRäuber am Badischen Staatstheater Karlsruhe erst im Verlauf der Doppelpass-Zusammenarbeit. Von der ursprünglichen Absicht, mehr mit dem Schauspiel zu kooperieren, war man aus dispositionellen Gründen abgekommen. Und da die erste Zusammenarbeit mit der Opernsparte so erfolgreich gewesen war, stand nun die Überlegung im Raum, auch das dritte Projekt im Musiktheater anzusiedeln. Das klang zunächst für beide Seiten attraktiv: Sowohl die CyberRäuber, als auch die Karlsruher Kolleg:innen hatten im Zuge des Digital Freischütz bereits viel voneinander gelernt, was z. B. die Arbeitsabläufe und die Möglichkeiten innerhalb der eigenen Kunstgattung betrifft. Es bestand bereits ein Vertrauensverhältnis. Außerdem war für das dritte Doppelpass-Projekt sowieso eine hybride Bühneninszenierung mit Livedarstellern auf einer physischen Bühne unter Nutzung von VR geplant. Oper oder allgemein Musiktheater hätte sich also angeboten.
Mai 2019: Auftrag
Nach der Premiere von Digital Freischütz stelle sich in einem Gespräch mit der damaligen Theaterleitung schnell heraus, dass auch die Ballettsparte für das dritte Projekt in Frage käme. Ab der kommenden Spielzeit 2019/20 sollte es eine neue Leitung für den Tanz geben, die innovativen Ideen und neuer Technologie gegenüber aufgeschlossen sei. Außerdem hätte das Theater so die Möglichkeit, sich mit VR gleich in drei Sparten zu präsentieren. Für die CyberRäuber kam der Vorschlag zunächst zwar überraschend, doch die Aussicht, mit dieser Produktion wieder künstlerisches Neuland zu betreten und sich in einer dritten Theaterform – nämlich dem Tanz – auszuprobieren, war verlockend. Verbunden damit war die Hoffnung, mit der Ballettsparte nun ähnlich positive Erfahrungen zu machen wie zuvor mit der Oper. Die ersten Überlegungen kreisten um die folgenden und ähnliche Fragen: Wie können wir das Ballett auf der Bühne mithilfe von Technologie beobachten? Wie können wir die gewohnten Blickwinkel und Rezeptionsverfahren erweitern? Wie können wir versuchen, in diesem Wechselspiel von Darstellung und Beobachtung eine andere oder experimentelle Form von Ballett stattfinden zu lassen? Könnten Technologien wie die maschinelle Beobachtung von Körperbewegungen (Motion Capture) hier hilfreich sein? Wie lassen sich Live-Moment und virtuelle Erfahrung verbinden und welche Synergieeffekte können daraus entstehen? Wie können Mensch und Maschine miteinander interagieren, sich womöglich sogar gegenseitig beeinflussen?
Auf Seiten der CyberRäuber gab es jetzt viel zu tun. Das erste künstlerisches Konzept war schnell obsolet, weil doch erst einmal enorme organisatorische Hürden zu bewältigen waren. Die ursprünglich mit dem Theater vereinbarten Proben- und Premierentermine, die in die Jahresdisposition der CyberRäuber geflossen und ihre anderen Projekte definiert hatten, waren nicht mit den Vorstellungen der neuen Spartenleitung Ballett vereinbar. Für den Zeitraum März und April 2020 waren schlicht keine Tänzer:innen verfügbar. Die Premiere hätte in den Juli verschoben werden müssen (heute ist klar, dass das Projekt dann gar nicht stattfinden hätte können). Dieser Konflikt konnte nur durch einen konzeptionellen Kompromiss gelöst werden: Die CyberRäuber sollten in einem Zeitraum X vorab mit den Tänzer:innen arbeiten und Material aufnehmen, im Stück – also auf der physischen Bühne – aber vollständig ohne Tänzer:innen des Staatsballetts arbeiten. Um die Abwesenheit der Tänzer:innen künstlerisch konstruktiv zu nutzen, entstand die Idee, sie auf die VR-Ebene zu heben, sodass sie zwar nicht wirklich auf der Bühne, aber im virtuellen Raum zu erleben sind. So wurde aus einer echten Kooperation erneut eine Art Ko-Kreation, indem die CyberRäuber vor allem ein Konzept entwickelten und durchführen, während die Kolleg:innen in Karlsruhe die Inhalte dafür liefern würden. Der gemeinsam geschlossene Kompromiss umfasste zwar auch eine dramaturgische Beratung von Seiten des Theaters sowie die mehrheitlich selbständige Entwicklung der Tänzer:innen von eigenen Choreografien, dennoch wurde aus einem gemeinsamen Probenzeitraum von acht Wochen nun eine Auftaktveranstaltung, drei gemeinsame Aufnahmetage und die Endprobenzeit von geplanten zehn Tagen. Auf der Seite der CyberRäuber kamen der Tänzer und Choreograf Ronni Maciel, der Musiker Micha Kaplan (der bereits bei Digital Freischütz im Team war), Angelika Daphne Katzinger (Bühnen-/Kostümbild für Prometheus unbound) für Bühne und Kostüm sowie Eva Tittmann für die Produktion dazu, die das Projekt mit den CyberRäubern im Wesentlichen in Berlin realisieren sollten.
Konzept und Technologie
Gemeinsam entwickelten die CyberRäuber und ihr erweitertes Team die künstlerischen Ideen und gestalterischen Ansätze für das Tanzprojekt in VR weiter. Folgende Gedanken spielten dabei eine Rolle:
- Beobachtung des Tanzes mithilfe von Künstlicher Intelligenz (KI)
- Erkenntnisgewinn über das ,System’ des Tanzes als solches
- Gemeinsame Forschung von Tänzer:innen und KI am Tanz der Zukunft
- Wechselspiel zwischen Unmöglichkeiten der körperlosen Maschine und Möglichkeiten des physischen Menschen
All diese Gedankenspiele mussten die Abwesenheit der Tänzer:innen integrieren. Aus all diesen Faktoren entstand die Kernidee, die Technologie von VR zu benutzen, um die Besucher:innen selbst zu Tänzer:innen zu machen. Sie treffen im virtuellen Raum auf humanoide Avatare in Form von digitalen Tänzer:innen, die sie zum Tanzen einladen und animieren sollen. Hier kam also der Faktor der Interaktion als neues theatrales Element zur Produktion hinzu. Ballettbesucher:innen sollten durch VR die Möglichkeit bekommen, Bewegung selbst zu erfahren. Außerdem sollten durch verschiedene Projektionen mehrere Stufen und Ebenen von VR etabliert werden.
Nach dem dispositionellen und organisatorischen Vorlauf, machten die CyberRäuber sich also an das künstlerische Konzept, das ihrer Produktion mit dem Karlsruher Ballett zugrunde liegen sollte: Entwickelt werden sollte eine Bühneninstallation, die über mehrere Stunden kontinuierlich laufen sollte, mit Zeitfenstern für jeweils 20-30 Personen und ca. 50 Minuten Dauer. Großflächige Videoinstallationen mit einem übergreifenden Soundtrack in insgesamt vier Akten sollte zum Einsatz kommen, bei der die Besucher:innen sowohl in der klassischen Publikumsperspektive, als auch mit VR-Brillen ausgestattet teilnehmen. Ein Höhepunkt der Inszenierung sollte der Moment sein, in dem die Zuschauer:innen auf der Tanzfläche mithilfe von VR-Brillen tanzenden Avataren begegnen und sogar mit ihnen tanzen. Die Abwesenheit der echten Tänzer:innen sollte so aufgehoben und das Publikum zu Tanzenden gemacht werden. Die Thematische Klammer war – noch ein Impuls aus der Auseinandersetzung mit Prometheus Unbound – die Frage von der Bewusstseinswerdung künstlicher Intelligenz. Wenn man dem Zitat aus „Homo Deus“ von oben folgt („Organisms are algorithms, all life is data processing“), so ist der entscheidende Unterschied zwischen menschlicher und Künstlicher Intelligenz das sogenannte „Trägermedium“. Der Mensch hat einen Körper, mit dem er die Welt begreift. Für eine KI ist also die körperliche Repräsentanz ein wichtiger Schritt auf dem Weg, Menschsein zu verstehen. Da der Körper beim Tanz ständig in Bewegung ist, könnte man also argumentieren, dass Tanz – genauso wie Sprache – ein wesentlicher Ausdruck des Menschseins ist.
Für die Abbildung dieses Ausdrucks entschieden sich die CyberRäuber für das Aufzeichnen von Körperbewegung (Motion Capture). Diese Technologie ermöglicht zum einen die direkte und distanzlose Dokumentation großer Bewegungen sowie einzelner Körperteile, und zum anderen die Interaktion mit den aufgezeichneten Sequenzen. Die Oculus Quest-Brille, die für die Bühneninstallation zum Einsatz kommen sollte, besitzt viele Sensoren und ermöglicht die Bewegung der BenutzerInnen im Raum.
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PRAXIS
„CyberBallet“ am Badischen Staatstheater Karlsruhe, bzw. in VR
Ab Oktober 2019: Aufnahmen in Karlsruhe
Nachdem im Oktober 2019 das Theater den CyberRäubern signalisiert hatte, dass die konkrete Umsetzungsphase des dritten und letzten Doppelpass-Projekt nun beginnen könne, stiegen die CyberRäuber direkt in die Arbeit ein. Es folgten Gespräche mit den beteiligten Tänzer:innen und die Arbeit an den Choreografien. Ende Januar 2020 kam es zu drei Aufnahmetagen auf der Karlsruher Probebühne in der Nancyhalle. Die TänzerInnen hatten sich mit dem Thema einer kindlichen, lernbegierigen künstlichen Intelligenz auseinandergesetzt, verschiedene Lebensphasen und emotionale Zustände tänzerisch erarbeitet. Daraus entstanden diverse Soli, aber auch Pas de Deux und Ensembles.

Die CyberRäuber setzten diese Tanzstücke dann gemeinsam mit Ronni Maciel für die 360°-Kamera und für die 180°-3D-Kamera in Szene, fingen aber auch klassische Videoaufnahmen mit Stativen und Gimbal ein. Diese dienten im weiteren Verlauf auch als Grundlage für diverse Machine Learning-Algorithmen, die z. B. Posenerkennunng und Labeling betrieben, bzw. mit denen 3D-Bewegungen aus 2D-Videomaterial synthetisiert werden konnte. Dieses erste und einzige Zusammentreffen zwischen den Karlsruher Tänzer:innen und den CyberRäubern bildete den Grundstock für das CyberBallet. Im Rahmen der Aufnahmen wurde das Material generiert, was den Künstler:innen in der späteren Er- und Bearbeitung zur Verfügung stand. Da es aber keinen gemeinsamen Probenprozess gab, in dem die Choreografien erarbeitet wurden, sondern die Tänzer:innen die Stücke mehrheitlich selbständig entwickelt hatten, fielen die Aufnahmetage, die eigentlich den Höhepunkt eines Probenzeitraum markieren sollten, in diesem Fall mit der Kennenlernphase und dem gegenseitigen Annäherungsprozess (persönlich und professionell) zusammen. Nicht nur die Aufnahmen mussten generiert werden, sondern auch das Vertrauen als Basis für die Zusammenarbeit überhaupt.
Februar 2020: Proben in Berlin
Mitte Februar nahmen die CyberRäuber die Proben in Berlin auf, bei denen sie schnell mit der Methode des Motion Capturing begannen und die vier Akte sowie die Dramaturgie des Stückes genauer definierten. Nach den ersten Sessions gab es bereits Prototypen für die Oculus Quest, in der man in VR den zuvor aufgenommenen Bewegungen begegnete, von einem Avatar aufgefordert wurde, diese Bewegungen zu kopieren oder sie in eigene Tanzbewegungen zu integrieren. Micha Kaplan arbeitete parallel am dazugehörigen Soundtrack. Außerdem wurde aus dem gesamten aufgezeichneten Videomaterial ein 50-minütiges Video, das später auf drei großflächigen Projektionswänden auf der Bühne zu sehen sein sollte.

März 2020: Pandemie
Am 17. März mussten die Proben aufgrund der Corona-Pandemie unterbrochen werden und wenige Tage später wurde auch die geplante Premiere im April in Karlsruhe abgesagt. Die CyberRäuber entschieden sich schnell, ihr Tanzstück trotzdem stattfinden zu lassen – und zwar auf einer virtuellen Bühne. Seit 2018 hatten sie bereits regelmäßig mit sogenannten Social-VR-Plattformen experimentiert und unter dem Label CyberTheater Erfahrungen gesammelt. Auf diesen Plattformen können sich Zuschauer:innen aus der ganzen Welt virtuell begegnen. Via VR-Headset (oder Computer) erhält jede Person einen Avatar und kann sich durch den virtuellen Raum bewegen oder mit VR-Welten spielen. Diese virtuelle Realität wollten die CyberRäuber nun als virtuelle Bühne nutzen und sahen darin auch viele Vorteile: Spannende und eindrucksvolle Bühnenbilder und Effekte herzustellen, ist in VR deutlich leichter und vor allem nicht an finanzielle Mittel gebunden.
Durch das generierte Material bei den Aufnahmen in Karlsruhe konnten die Tänzer:innen leicht auf die virtuelle Bühne transferiert werden, jedoch die Frage, wie das Publikum dorthin kommt, bereitete den CyberRäubern zunächst Kopfzerbrechen. Außerdem kam erschwerend hinzu, dass Björn Lengers und Marcel Karnapke sich mit der neuen Plattform, auf der die Proben stattfinden sollten, zwar gut auskannten, das restliche Team aber zum ersten Mal damit Kontakt hatte. So musste zuerst ein allgemeines Verständnis für die Hardware, die Problemstellungen und die Herausforderungen, aber auch Chancen, die diese Arbeitsweise mit sich bringt, entstehen. Außerdem endete mit der Absage der Live-Premiere auch die Zusammenarbeit mit den Karlsruher Kolleg:innen, denn die Endproben vor Ort, bei denen die Tänzer:innen eingebunden worden wären, fielen dementsprechend aus.
Zunächst bestand die Aufgabe der CyberRäuber darin, mehrere Möglichkeiten der Teilhabe zu schaffen, u. a. mithilfe einer tatsächlichen VR-Brille, eines üblichen Computers mit Windows-Betriebssystem, in Form eines Live-Streams oder einer Aufzeichnung und per Chat-Funktion. So entstand eine gewisse Niederschwelligkeit, die den Zugang zum Endprodukt vereinfachte. So entstand die Idee zur Nutzung einer Multi-User-Plattform, die sich VR-Chat nennt.
Ein neues Projekt entsteht: CyberBallet
VR-Chat ermöglicht unter anderem die Synchronität und Parallelität von Ereignissen. Das bedeutet, das Publikum sieht Abläufe in dem Moment, in dem die CyberRäuber sie stattfinden lassen, da sich alle auf derselben Bühne befinden. So wurden die Mechanismen des analogen Theaters zum Fundament der Inszenierung, die Steuerungslogik aber komplett neu entwickelt. Programmierte Avatare bewegen sich im virtuellen Raum wie sonst Darsteller:innen auf der Theaterbühne. Mit dem Unterschied, dass hier das Publikum die Bühne nicht nur selbst betreten und darin aktiv werden kann, sondern die Bühne sogar selbst entwirft.
Die CyberRäuber entwickelten also eine hybride Form aus bestehendem Material (Aufnahmen der Tänzer:innen: Video und Motion Capture) und neuen Bühnenbildern. Außerdem wurden in Tiltbrush Entwürfe für eigene Avatare entwickelt, die nicht der glatten Videospiel-Ästhetik entsprechen, sondern roh und handgemacht wirken sollten. Diese Avatare wurden im Anschluss mit den Bewegungsdaten der Tänzer:innen zum Leben erweckt.
Die Zusammenarbeit im Team war dabei nicht immer einfach, denn VR-Chat funktioniert zwar an herkömmlichen PCs, stellt iOS-Nutzer:innen aber vor Herausforderungen. Die ersten Proben beschäftigten sich dann hauptsächlich mit der live gestreamten Perspektive von Björn Lengers und Marcel Karnapke. Dieses Vorgehen wiederum brachte auch Vorteile mit sich: Denn die anschließenden Feedbackrunden vereinten dann sowohl die Perspektive des in VR Anwesenden, den Anwesenden am Bildschirm und den „reinen“ TV-Zuschauer:innen. Außerdem hatte Marcel Karnapke die Bühne von Anfang an so konzipiert, dass einzelne Elemente (Videoprojektionen, Avatare, Bewegungsabläufe, wechselnde Effekte) in VR, von einem verborgenen Technikpult auf der Bühne gesteuert werden mussten. In den Proben konnten Abläufe also ohne Probleme geändert und wiederholt werden, ohne die vorgenommenen Änderungen jedes Mal neu programmieren zu müssen. Dadurch wurde der Prozess einer klassischen Probe ähnlicher, wenn auch natürlich weniger flexibel und lebendig. Das ausgewählte Videomaterial war eine fixe Konstante, die selbstverständlich nicht mehr geprobt werden musste – auch das: eine Erleichterung. Die Hauptaufgabe für die CyberRäuber bestand jedoch darin, die Sequenzen sinnvoll miteinander zu verbinden, sie inhaltlich zu verschränken, sie in Szene zu setzen.
Schnell war klar, dass sie sich zugunsten eines organischen Zusammenhangs von der Idee, das Stück in verschiedene Akte zu unterteilen, verabschieden werden und eher ein kompaktes Erlebnis von ca. 20 Minuten anstrebten. Das betraf natürlich auch die Komposition von Micha Kaplan, der sich ebenfalls neu strukturierte: weniger abgeschlossene Einzelstücke, als vielmehr ein homogener Verlauf. In diesem Prozess entschieden die CyberRäuber, die Schauspielerin und Sängerin Jessica Gadani, mit der sie bereits u. a. in ihrer Produktion Biene im Kopf zusammengearbeitet hatten, ins Team zu holen. Gadani sprach die menschliche Stimme der künstlichen Intelligenz ein, die zum Bindeglied zwischen Mensch und VR werden sollte. Konzeptionell kam es erneut zu Querverweisen auf Prometheus Unbound. Letztlich sprach und sang Gadani folgende Texte ein: technische Hinweise für die ursprüngliche Bühnenfassung, den Maschinen-Monolog (von Björn Lengers mit Anleihen an Inhalte aus Prometheus unbound und Homo Deus von Yuval Harari) sowie das Lamento aus Henry Purcells Dido und Aeneas. Die Musik emanzipierte sich mehr und mehr von ihrer Funktion als Soundtrack hin zum Taktgeber für das szenische Geschehen im virtuellen Raum. Jede einzelne Aktion und Bühnenhandlung orientierte sich an der Musik. Nach den Proben erstellte Micha Kaplan eine neue musikalische Fassung, an der sich alle Videosequenzen im Anschluss ausrichteten.
Reizvoll an diesem Vorgehen war der entzerrte Probenprozess und die Offenheit des Premierendatums, was den Druck aus der Produktion nahm. Dennoch musste zwischen den Proben meist viel umgestellt und bearbeitet werden, sodass zwischen den insgesamt ca. sechs Proben jeweils vier bis fünf Tage lagen.
Juni 2020: Öffentliche Proben
Der nächste logische Schritt bestand in der Integration von Publikum im Rahmen eines Versuchsballons. Da CyberBallet nun für eine voll immersive Bühne geplant wurde, auf der die Besucher:innen in ihren Handlungsmöglichkeiten sehr frei sein sollten, war es für die CyberRäuber wichtig zu wissen, wie die Anwesenheit von Publikum die Inszenierung beeinflusst. Deshalb planten sie eine öffentliche Probe. Besonders war hier im Vergleich zu analogen Proben auf einer realen Theaterbühne, dass das Arbeiten im virtuellen Raum viel dynamischer und flexibler ist. So konnten Bühnenbildelemente oder visuelle Sequenzen aufgrund von Feedback neu überarbeitet werden – ein Vorgang, der mit einem vorab in den Werkstätten gebauten Bühnenbild nahezu unmöglich ist.
Parallel kam es bereits zu verbindlichen Absprachen, CyberBallet bei VRHam, einem VR&Kunst-Festival in Hamburg, das 2020 zum dritten Mal stattfand, sowie beim Ars Electronica Festival zu zeigen. So entstanden plötzlich auch Aufführungsdaten, was den Produktionsprozess ebenfalls beschleunigte. Im Rahmen der VRHam sowie auf der Social-VR-Plattform Museum of other realities kam es also zunächst zu öffentlichen Proben mit Publikum, aus denen für die CyberRäuber gewinnbringende Erkenntnis wie diese hervorgingen:
- Zu Beginn: Einladung aller Teilnehmenden in ein virtuelles Foyer, in dem grundsätzlich auf die Funktionsweise der Plattform hingewiesen wird und technische Möglichkeiten geprüft werden.
- Notwendigkeit von eher einheitlichen und transparenteren Avataren, sodass die Besucher:innen sich voneinander nicht gestört fühlen und für die lediglich streamenden Zuschauer:innen die Trennung zwischen Darsteller:in und Besucher:in klarer wird.
- Sobald die technische Einführung vorbei war, griffen schnell klassische Theatermechanismen. Obwohl es jede:r Besucher:in die Bühne jederzeit selbst hätte betreten und auf ihr agieren können, verharrte die Mehrheit doch in der Zurückhaltung und nahmen – ähnlich wie bei einem Live-Theaterabend – die Grenzen zwischen Bühne und Zuschauer:innenraum wahr, obwohl sie hier in VR gar nicht existierten.
September 2020: Premiere auf der Ars Electronica
Nach der öffentlichen Probe am 4. Juni war die Produktion im Grunde finalisiert. Vor der Premiere auf der Ars Electronica in Linz wurden noch zwei sogenannte Wiederaufnahme-Proben angesetzt, an den Abläufen im Großen und Ganzen aber nichts mehr geändert. Beim Ars Electronia-Festival kam für die CyberRäuber die Herausforderung hinzu, dass die Vorstellung nicht nur auf Twitch, sondern auch auf den Plattformen Periscope und Youtube gestreamt wurden und auch kostenfreie Tickets vergeben wurden, sodass das Publikum international aufgestellt war. Trotz der Vereinzelung vor den Bildschirmen konnte das Publikum, das für das VR-Erlebnis im virtuellen Raum zusammenkam, ein plastisches Gemeinschaftsgefühl entwickeln und einen besonderen Theatermoment zu teilen. Ähnlich wie im Theatersaal entsteht plötzlich ein fragiler Live-Moment, der auch ein gewisses Risiko in sich birgt. Deutlich wurde auch, dass der virtuelle Raum eben doch eine große Freiheit (z.B. in der Bewegung) verspricht, obwohl er die Besucher:innen eben auch gleichzeitig stark kontrolliert.
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ANALYSE
Rückblick und Ausblick
Bewertung
Obwohl bei digitalen Projekten die Versuchung immer groß ist, das Rad neu zu erfinden und Dinge grundlegend anders zu machen, ist gleichzeitig die Gefahr im Raum, bekannte Muster zu wiederholen. Gerade im Bereich der Interaktion ist die Verbindung zu Gaming- und Videospiel-Mechanismen naheliegend. Das CyberBallet grenzt sich jedoch zum Duktus des Videospiels ab, bei dem es oft lediglich um das Vorwärtskommen und das Erreichen von Zielen geht, also um sehr individuelle und egoistische Narrative. Im CyberBallet stehen Charaktere auf der Bühne, die universellen Charakter haben, die eine Geschichte erzählen, die jedoch ohne Sprache funktioniert.
Die Transformation einer Bühneninstallation in eine VR-Inszenierung hing für die CyberRäuber mit einem erheblich größeren Produktionsaufwand (Zeit, Technik, Erarbeitung von Grundlagen) einher. Das CyberBallet als VR-Erlebnis ist für sie als Produzenten in etwa dem Umfang von zweieinhalb Theaterprojekten gleichzusetzen. Durch die frühzeitigen Signale der Bundeskulturstiftung, dass auch in der Pandemie weiterhin alle Finanzierungsgrundsätze für die Doppelpass-Kooperationen gelten, stand die Produktion jedoch immer auf einem sicheren Fundament. Für die CyberRäuber ging CyberBallet mit einer ganz explizit neuen Erfahrung einher: Sie wurden im Rahmen der Vorstellung zu Performern auf der virtuellen Bühne, indem sie die Besucher:innen im Foyer begrüßen, sie auf die Bühne bringen und die Vorstellung live steuern.
Ähnlich wie schon bei Digital Freischütz haben sich die CyberRäuber auch für das CyberBallet viele Arbeitszusammenhänge und Fähigkeiten neu erarbeiten müssen. Ein Nachfolgeprojekt wäre also nicht nur künstlerisch interessant, sondern auch nachhaltig gedacht, da nur so das nun generierte Wissen auch weiterentwickelt und gewinnbringend genutzt werden kann. Ein Wermutstropfen ist dabei, dass die CyberRäuber und teilweise auch fremde Dritte, die das Projekt mit Neugierde begleitet haben, mitunter sehr viel mehr aus dem Projekt mitnehmen, als womöglich das Badische Staatstheater in Karlsruhe, das in diesem Fall die Produktion noch nicht einmal im eigenen Haus zeigt und vor allem aber auch kaum Grundlagen geschaffen hat, um weiterhin eigenständig in diesen Kontexten zu arbeiten.
Hybrid: Eintagsfliege oder Zukunftsmodell?
Das Erfolgsrezept des CyberBallet besteht in seiner Anpassungsfähigkeit: Es hat die Pandemie nicht nur überlebt, sondern hat in ihr eine neue Gestalt angenommen, die auch abgesehen von Corona einen wertvollen Beitrag zu VR-Theater leistet. CyberBallet funktioniert im vollständig virtuellen Raum, könnte aber auch jederzeit live mit physisch anwesendem Publikum in einem Theaterraum aufgeführt werden. Außerdem gäbe es die Möglichkeit, die Inhalte der Produktion für die am Staatstheater Karlsruhe vorhandenen Oculus Go-Brillen bereitzustellen, sodass CyberBallet ähnlich wie Digital Freischütz interessierten Theaterbesucher:innen angeboten werden kann. Man könnte die Produktion also in den realen Raum verlegen, ohne den virtuellen dafür aufgeben zu müssen.
Die Fragen und Zielsetzungen bleiben dabei dieselben: Wie generiert man ein Gemeinschaftsgefühl im Publikum? Wie lassen sich Interaktionen zwischen Zuschauer:innen- und Bühnenraum gestalten?
August 2021: „CyberBallet“ 2.0
Für ein geplantes Gastspiel am td Berlin entwickeln die CyberRäuber ihr „CyberBallet“ aktuell erneut weiter und gehen dabei eigentlich an den Ausgangspunkt ihrer Idee zurück: „CyberBallet“ soll als Bühneninstallation live stattfinden. Zwei oder mehr Besucher:innen erleben die VR-Eindrücke physisch voneinander getrennt und mit individuellen, virenfreien Headsets, in denen sie jedoch sowohl einander als auch den tanzenden Avataren begegnen und auch selbst tanzen können.
Dokumentation: Deborah Maier
Basierend auf Interviews mit Marcel Karnapke und Björn Lengers