Fragmente | Digital Freischütz

am Badischen Staatstheater Karlsruhe

Regie, Konzept & Realisation CyberRäuber (Marcel Karnapke, Björn Lengers)
Komposition & Sounddesign Micha Kaplan
Dramaturgie Deborah Maier
Produktionsleitung Eva-Karen Tittmann

Ton- und Bildaufnahmen
Max Matthias Wohlbrecht
Agathe KS. Ina Schlingensiepen
Kaspar KS. Konstantin Gorny
Ännchen Agnieszka Tomaszewska
Brautjungfer Camelia Tarlea
Musikalische Leitung Johannes Willig
Chorleitung Ulrich Wagner
Badische Staatskapelle
Badischer Staatsoperchor

THEORIE

Doppelpass, Kooperationspartner, Projektideen, Erwartungen und Ziele

Frühjahr 2018: Verlinkung

Im Rahmen einer Doppelpass-Kooperation kam die erste Zusammenarbeit zwischen dem Badischen Staatstheater Karlsruhe und dem Berliner Medienkollektiv CyberRäuber zustande. Insgesamt sollten über einen Zeitraum von drei Jahren drei unterschiedliche Projekte (eines davon am Theater Linz) entstehen sowie Erkenntnisse über die aktuelle Palette der theatralen Mittel von Virtual Reality (VR) gewonnen, zusammengeführt und spielerisch-künstlerisch umgesetzt werden. Technisches und künstlerisches Wissen und Können sollten im Zuge der Doppelpass-Projekte ausgetauscht und kontinuierlich erweitert werden.

Die Erwartungen und Ziele waren zu Beginn des Projekts auf beiden Seiten naturgemäß sehr hoch. Für die CyberRäuber handelte es sich um die bis dato größte und längste Förderung und für das Staatstheater war die Erfahrung mit VR eine Premiere. Eine wichtige Initiator- und Vermittlerrolle hatte in diesem Zusammenhang Jan Linders, bis 2019 Chefdramaturg am Badischen Staatstheater, der die Verbindung der CyberRäuber nach Linz mit dem Ars Elektronica Center sowie nach Karlsruhe und zum ZKM herstellte und begleitete. Auf einer Konferenz mit dem Titel „XTheater & Netz“, veranstaltet von der Heinrich-Böll-Stiftung und nachtkritik.de, war Jan Linders 2017 erstmals auf die Arbeit der CyberRäuber aufmerksam geworden. Gemeinsam mit Peter Spuhler, Intendant des Badischen Staatstheaters, erlebte er beim Theatertreffen desselben Jahres die Produktion Memories of Borderline, die die gemeinsame Zusammenarbeit schlussendlich besiegelte und die Antragstellung bei der Doppelpass-Stiftung zur Folge hatte. Die Kooperation mit den CyberRäubern schien für Karlsruhe ein sinnvolles Folgeprojekt der Produktion Stage Your City mit einer mixed reality-App und einer digitalen Stadtführung.

Sommer 2018: Wünsche und Ziele

Ein Kick-Off-Workshop in Karlsruhe sollte zum Kennenlernen, Brainstormen und gemeinsamen Ausprobieren der VR-Technologien dienen und bereits zu ersten Projektideen führen. Nachdem die bisherigen Produktionen der CyberRäuber hauptsächlich Theaterinhalte in Virtual Reality transportiert hatten, sollte nun die große Herausforderung darin bestehen, Virtual Reality ins Theater zu bringen, also bühnenfähige Live-Projekte mit physischer Kopräsenz zu entwickeln.

Das Staatstheater erhoffte sich von der Kooperation, eine experimentelle Entwicklung von VR-Erfahrungen für eine breite Öffentlichkeit, bzw. für ein Theaterpublikum, das das Theater bisher als Hort des Analogen schätzte, zugänglich zu machen. Außerdem wünschte man sich eine bessere Vernetzung in der Stadt Karlsruhe als führende IT-Stadt und Stadt der Medienkunst durch das ZKM sowie neuerdings als UNESCO City of Media Arts.

Konstantin Gorny als Kaspar, 3D scan, digital verfremdet

Die CyberRäuber erwarteten von der Zusammenarbeit, von der bestehenden technischen und künstlerischen Infrastruktur des Staatstheaters (Technik, Fundus, Werkstätten, Manpower, Ensemble…) zu profitieren und dadurch freie und kreative Arbeit sowie innovative Forschung möglich zu machen. Im Theater erhoffte man sich einen experimentierfreudigen Rahmen, sozusagen ein Labor, in dem neue Technologien und künstlerische Ansätze ausprobiert und entwickelt werden dürfen. Das Theater wollte die technische Professionalität der CyberRäuber in ein eigenständiges künstlerisches Format übertragen, das sich mit der Frage auseinandersetzt, wie sich Theater und Medien jetzt und in Zukunft vereinen lassen. Außerdem sollten sich die Dynamik und Unkonventionalität des Kollektivs im besten Fall auf den oft starren Spielbetrieb der Institution übertragen.

Da beide Seiten eine kollektive Zusammenarbeit zum Ziel hatten, wurde zunächst für alle drei Produktionen jeweils ein Probenzeitraum von sechs bis acht Wochen mit dem Ensemble geplant.

Herbst 2018: VR & Oper

Zu Beginn waren die geplanten Produktionen Fräulein Julie als Kammerschauspiel in VR (Dauer max. 40 Minuten), eine VR-Installation auf der Bühne sowie eine größere Bühnenproduktion mit VR und Live-Schauspiel. Diese Vorhaben änderten sich allerdings gleich zu Beginn der Kooperation. Bisher hatten die CyberRäuber hauptsächlich im Sprechtheater-Bereich gearbeitet und in den Sparten Oper und Ballett hatte es in Karlsruhe bisher nur wenige digitale Produktionen gegeben. Somit bestand von beiden Seiten – CyberRäuber und Staatstheater – der Wunsch, mit der gemeinsamen Produktion Neuland zu betreten. Die virtuellen Räume der CyberRäuber schienen eine passende Möglichkeit zu sein, dem überfrachteten und überfrachtenden Gesamtkunstwerk Oper mit diversen, mehrdimensionalen und über die Realität hinausweisenden Bühnenbildern gerecht zu werden. So kamen sie mit der Karlsruher Theaterleitung in einem anfänglichen Brainstorming schnell überein, dass aus der zuvor geplanten Schauspiel-Produktion Fräulein Julie nun ihre erste Opern-Produktion werden sollte. Die CyberRäuber sahen darin eine willkommene Herausforderung und Chance, die Kraft der Musik mit der immersiven Wirkung von VR noch zu verstärken und darüber hinaus einen neuen Zugang zur Kunstform Oper zu schaffen. Folgende Fragen standen dabei im Raum: Kann es gelingen, mit einer Live-Performance, die nicht nur reine Aufzeichnung ist, aus dem Opernhaus heraus zu gehen, gewissermaßen auf die Straße und damit näher an das Publikum heran zu kommen, sodass man die Kunst und die Künstler:innen wirklich erlebt und ihnen begegnet?

Schnell war allerdings klar, dass man sich im vorgesehenen Rahmen unmöglich eine komplette Oper in VR vornehmen könnte. Die CyberRäuber entschieden sich daher, beim ursprünglich geplanten Format von maximal 40 Minuten zu bleiben, aber dennoch nicht an einer Nummernrevue, sondern an einer zusammenhängenden Dramaturgie zu arbeiten. Damit verbunden kam die Idee auf, die ausgewählten Opernauszüge durch neue Musik zu verbinden. Für diesen Part wurde der Musiker und Komponist Micha Kaplan als fester Bestandteil des Teams engagiert. Die ambitionierte Vision war folgende: Ausgehend von der Grundidee der Kunstform Oper sollte ein Gesamtkunstwerk geschaffen werden, das gerade durch die Mittel von VR – und mit Brille und Kopfhörer – das Publikum in eine völlig neue und in sich konsistente Welt entführen kann. Die Kraft der Emotionen und des Klangs, die der Oper als Gattung inhärent sind, wurden hierbei Schwerpunkte der inhaltlichen Konzeption. Die virtuellen Bühnen sind den sonst analogen Bühnenbildern auf der Opernbühne an Flexibilität, Spontaneität und Wandlungsfähigkeit weit überlegen. VR kann auf dynamische, inhaltliche und emotionale Veränderungen im Klang direkt reagieren, Räume für diese Merkmale schaffen und die genannten Qualitäten der Oper dadurch direkt erlebbar machen. Eine wichtige Prämisse bei diesen Gedankenspielen war die Gleichberechtigung der Effekte, sodass die visuelle die emotionale oder inhaltliche Wirkung weder überlagern noch illustrieren, sondern die beiden Komponenten sich im besten Fall gegenseitig verstärken sollten.

PRAXIS

Fragmente | Digital Freischütz am Badischen Staatstheater Karlsruhe

Dezember 2018: Konzeption

In Gesprächen zwischen den CyberRäubern und der Theaterleitung in Karlsruhe kristallisierte sich ein für alle Beteiligten wichtiges Kriterium heraus, das es bei der Sujet-Findung der Produktion zu beachten galt: Die gewählte Oper sollte im gängigen deutschsprachigen Kernrepertoire enthalten und also ausdrücklich keine Uraufführung oder Randrepertoire sein, wie es oft bei vergleichbaren Projekten der Fall ist. Gemeinsam entschied man sich für die berühmte Oper Der Freischütz von Carl Maria von Weber, die viele Zuschauer:innen noch aus ihrer Schulzeit kennen. Ein positiver Nebeneffekt dieser Wahl lag in der aktuellen Verankerung des Stücks im Opernspielplan der Saison 2018/19 als analoge Produktion auf der großen Bühne. Somit bestanden am Haus Vorkenntnisse zum Stück, Ensemblesänger:innen hatten die Partien bereist studiert, das Orchester beherrschte die Partitur, Musikalische Leitung und Dramaturgie waren inhaltlich vorbereitet. Für das Publikum sollte sich daraus eine vielseitige Annäherung an das Stück ergeben: eine analoge Form auf der Bühne sowie eine digitale im virtuellen Raum.

Tonaufnahmen mit der Badischen Staatskapelle

Geplant wurde eine viermal zehnminütige VR-Opern-Serie mit den Darsteller:innen und dem Orchester der aktuellen Freischütz-Inszenierung am Badischen Staatstheater. Die wertvolle Ressource einer bestehenden Inszenierung nutzend, wurde eine Neuinterpretation und Transformation in ein neues Aufführungsformat beabsichtigt. Für die CyberRäuber besonders interessant erschien die Einteilung des gesamten Opernstoffs in Teilaspekte und die Möglichkeit, diese in fragmentarischen, aber eigenständigen Folgen in VR erlebbar zu machen. Konkrete Erwartungen an die Arbeit waren die Entwicklung räumlicher Akustik, eine intensive Kooperation mit der Bühnentechnik und der Tonabteilung sowie eine Residenz- und Arbeitsphase in Karlsruhe von mindestens sechs Wochen. Für die Aufführung war eine VR-Box im Foyer des Staatstheaters mit umgebendem Lounge-Bereich für den Austausch der Zuschauer untereinander im Anschluss an die Vorstellung vorgesehen. Die Produktion war von Anfang an als gastspieltaugliches Format geplant. Gewünscht waren mindestens fünf größtenteils internationale Gastspiele im Förderzeitraum. Die Premiere wurde für den 26. April 2019 in Karlsruhe disponiert.

Für die CyberRäuber lag der inhaltliche Schwerpunkt vor allem im Erschaffen virtueller Räume, die sich aus der Freischütz-Thematik ergaben. In diesen Räumen sollten die Zuschauer:innen die vierte Wand zum Geschehen durch Interaktion durchbrechen und die Kernelemente der Oper hautnah erleben. Der Vorteil von VR, mittendrin, statt nur dabei zu sein, wird in der Kunstform Oper noch relevanter, da das Publikum die Distanz einer konventionellen Vorführung zu den Darsteller:innen überwindet und Klang wie Emotion aus nächster Nähe verfolgen kann. So gesehen gibt es anders als im Opernhaus keine guten oder weniger guten Plätze, sondern nur die erste Reihe. Die Zuschauer:innen sollen selbst entscheiden können, aus welcher Perspektive sie die Aufführung erleben wollen. Sie werden damit zum/zur Regisseur:in ihrer eigenen Opernvorstellung.

Bei einem ersten Treffen im Dezember 2018 mit dem damaligen Chefdramaturgen Jan Linders und Björn Lengers von den CyberRäubern startete die gemeinsame und konkrete Zusammenarbeit in Karlsruhe, bei der ich als Operndramaturgin tätig war. Ich hatte bereits die Opernproduktion Der Freischütz im Herbst 2018 auf der Bühne des Großen Hauses in der Regie von Verena Stoiber betreut und war daher in den Stoff eingearbeitet. Bei diesem Kennenlernen ging es mir vor allem darum, von den Zielen, die die CyberRäuber mit dem Projekt verbanden, sowie von deren technischen Möglichkeiten in VR zu erfahren. Im Gegenzug konnten Björn Lengers und ich gemeinsam schon einige Musikstücke aus der Oper besprechen, die sich eventuell für die Fragmente eignen würden. Wir kamen in ein Brainstorming über thematische Schnittmengen, die den Freischütz als Stück und VR als Medium verbanden. Hier und in weiteren nachfolgenden Gesprächen kristallisierten sich folgende mögliche Nummern heraus:

  • die Ouvertüre, die einige musikalische Motive zu Beginn der Oper bereits vorstellt
  • Agathes Arien: „Und ob die Wolke sich verhülle“, deren Zitat „Das Auge, ewig rein und klar, nimmt aller Wesen liebend war!“ sozusagen schon auf VR verweist sowie „Wie nahte mir der Schlummer…Leise, leise, fromme Weise“
  • Ännchens Arie „Einst träumte meiner sel’gen Base“, die als Melodram viele unterschiedliche Klangqualitäten und theatrale Wirkung aufweist
  • die Chorstelle „Milch des Mondes fiel aufs Kraut“ und Max‘ Horror-Vision „Ha, furchtbar gähnt der düst’re Abgrund“ aus der Wolfsschlucht
  • Max‘ „Ach, länger trag ich nicht die Qualen“
  • Kaspars‘ Rache-Arie „Schweig, schweig, damit dich niemand warnt“
  • die berühmten Chöre „Jägerchor“ und „Jungfernkranz“
  • das Terzett zwischen Max, Agathe und Ännchen vor der Wolfsschlucht
  • und die Apotheose des Eremiten im Finale „Wer legt auf ihn so schweren Bann“

Dabei waren für die einzelnen Folgen auch Kombinationen und Kürzungen der jeweiligen Titel denkbar.

Folgende Fragen und Gedanken waren in der Konzeptionsphase wesentlich: Wie können wir eine kohärente Geschichte erzählen, ohne der linearen Narration der Oper chronologisch zu folgen? Welche Geschichte(n) wollen wir überhaupt erzählen? Welche Inhalte interessieren uns, und welche davon sind für VR relevant, interessant und umsetzbar?

Matthias Wohlbrecht als Max im Greenscreen Studio des ZKM Karlsruhe

Die Lösung nach einigen anschließenden Telefonkonferenzen zwischen Karlsruhe und Berlin war letztlich die Entscheidung für vier autonome Fragmente, die in sich geschlossen, aber auch in der Kombination funktionieren. Wir entschieden uns also dafür, nicht bloß eine vorgefertigte Geschichte zu erzählen, sondern den/die Zuschauer:in selbst zum/zur Geschichtenerzähler:in zu machen. Das wiederum gab uns die Freiheit, sehr genau an einzelne Themen des Stücks heran zu zoomen, dabei die Gesamtdramaturgie zunächst außen vor zu lassen (die ja ohnehin bereits auf der Großen Bühne zu sehen war) und Titel zu verbinden, die in ihrer Kombination neue inhaltliche Erkenntnisse zum Stück zulassen.

Schlussendlich haben wir folgende Fragmente mit den Buchstaben A-D versehen, wobei die Buchstaben explizit keine Chronologie oder Hierarchie vorgeben:

  • A „Milch des Mondes fiel aufs Kraut“ (Chor), „Jungfernkranz“ (Damenchor) & „Schweig“ (Kaspar): Der besungene Jungfernkranz windet sich zum Dornenkranz. An seinem Ende erwartet Kaspar die Zuschauer:innen mit seiner Rache-Arie. Aus einem Kaspar ergeben sich drei übergroße Kaspar-Statuen mit unterschiedlichen Körper- und Klangeffekten. Der Zuschauer hat autonome Bewegungsfreiheit.
  • B „Jägerchor“ (Herrenchor) & „Einst träumte meiner sel’gen Base“ (Ännchen): Der/die Zuschauer:in folgt Ännchen durch ein zunächst zweidimensionales Labyrinth, das sich von einem Wald in einen eher abgründigen, beängstigenden Irrgarten verwandelt. Durch die Kombination mit dem „Jägerchor“ erscheint Ännchen in einem ungewohnt düsteren Licht. Die Zuschauer:innen haben teilweise Bewegungsfreiheit.
  • C „Milch des Mondes fiel aufs Kraut“ (Chor) & „Wie nahte mir der Schlummer…Leise, leise, fromme Weise“ (Agathe): Zu Beginn folgt man einem Weg durch einen nächtlichen Wald hin zu einer beleuchteten Hütte. Drinnen sehen wir Agathe zunächst auf dem Boden liegen, später verschwindet sie visuell, ihre Stimme bleibt jedoch. Die Zuschauer:innen können sich sowohl im Haus (oben und unten), als auch draußen frei bewegen. Je nachdem, wo man sich aufhält, nimmt man unterschiedliche Klangperspektiven ein, hört also unterschiedliche Stücke.
  • D „Ha, furchtbar gähnt der düst’re Abgrund“ (Max) & Ouvertüre: Die Zuschauer:innen folgen Max im wahrsten Sinne des Wortes in die Wolfsschlucht. Während der Ouvertüre gelangt man über einen Wald, in dem je nach musikalischem Motiv die Darsteller:innen der vorherigen Episoden zu sehen sind, schließlich in den Zuschauer:innenraum des Großen Hauses, in dem Notenblätter aus der Partitur umherfliegen.

Januar – April 2019: Realisierung

Nach ersten Abstimmungen zwischen den CyberRäubern und dem Musikalischen Leiter Johannes Willig, dem Chorleiter Ulrich Wagner, dem Leiter der Ton- und Videoabteilung Stephan Raebel und der Chefdisponentin Uta-Christina Deppermann wurden folgende Eckpfeiler für die Produktion festgelegt:

  • Da die Ensemblemitglieder sowie das Orchester im laufenden Repertoirebetrieb eingespannt waren, sollten die ausgewählten Musiknummern vorab von der Badischen Staatskapelle und den jeweiligen Ensemblesänger:innen im Orchesterprobenraum aufgenommen werden. Das hatte außerdem den Vorteil, dass damit eine reine Studioaufnahme ohne verfremdende akustische Elemente aus der Aufnahme der Inszenierung für die Episoden verwendet werden konnte.
  • Die Chorstellen sollten ebenfalls vorab, aber separat zum eingespielten Playback aufgenommen werden.
  • Im Anschluss sollten die Video-Szenen zugunsten der musikalischen Qualität in vier- bis fünfstündigen Aufnahme-Sessions in einer Playback-Version gedreht werden. Für diese Drehs gab es vorbereitende Treffen zwischen den CyberRäubern und den Sänger:innen sowie zwischen Dramaturgie, Musikalischer Leitung und Orchestervorstand, um Konzept und Inhalte vorzustellen.

Im Anschluss gingen die verschiedenen Aufnahmetermine in die konkrete Planungs- und Umsetzungsphase. Mitte Februar 2019 wurden vor Vorstellungsbeginn Laserscan-Aufnahmen im Orchesterprobenraum, auf der Bühne und im Orchestergraben gemacht sowie die Orchesteraufnahme inklusive Behind-the-scenes-Material, danach die Choraufnahmen, Ende Februar und Anfang März die Video-Aufnahmen mit den Sänger:innen.

Hierfür musste ein geeigneter Ort gefunden werden, der ähnlich einer Black Box eine kontrollierbare Lichtsituation garantierte, sowie über die Technik und Ausstattung entschieden werden. Glücklicherweise fand sich mit dem Karlsruher ZKM ein großzügiger, kooperativer und unterstützender Partner, der uns die Green-Screen-Räumlichkeiten zu Verfügung stellte. Die Kostüme wurden weitgehend von der Inszenierung übernommen, wobei im Einzelfall auf Alltagskleidung ausgewichen wurde. Die Herausforderung für die Sänger:innen bestand darin, die Arie ohne jegliches Bühnenbild zu interpretieren, wohingegen die CyberRäuber sich nicht nur um die technische Umsetzung mit verschiedenen Kameras (volumetrische Kameras für 180-Grad-3D-Aufnahmen, 360-Grad-Laserscanner…) kümmern, sondern auch als Regisseure aktiv werden und szenische Anweisungen formulieren mussten. Für die Videodrehs bekamen wir außerdem organisatorische Unterstützung durch einen Regieassistenten aus dem Haus.

Konstantin Gorny als Kaspar in Fragmente | Digital Freischütz

Anschließend sollte das aufgezeichnete Material von den CyberRäubern bearbeitet werden. Neu war die für uns Theatermitarbeiter:innen verkehrte Vorgehensweise im Entstehungsprozess. Denn während im Verlauf einer Opernproduktion das Bühnenbild lange vor den Proben entsteht, entwickelten die CyberRäuber die virtuellen Räume ja im Anschluss an die Aufnahmen mit den Sänger:innen vor dem Green Screen. Nachdem sich aber alle auf diesen besonderen Ablauf eingelassen hatten, gab diese zunächst ungewöhnliche Vorgehensweise auch eine große Freiheit sowohl im Produktionsprozess als auch in der Nachbereitung. Diese Postproduktion übernahmen natürlich hauptsächlich die CyberRäuber in Berlin mit regelmäßiger Korrespondenz nach Karlsruhe. Anfang April fand eine gemeinsame Arbeitsphase mit den CyberRäubern in Berlin statt, bei der erste Umsetzungsideen ausprobiert, besprochen und angepasst werden konnten.

Die Tage vor der Premiere verbrachten die CyberRäuber in Karlsruhe, um die letzten Feinarbeiten in den Episoden sowie die technische Einrichtung vorzunehmen und den an der Produktion beteiligten KünstlerInnen schon vorab einige Einblicke zu gewähren.

Vor der Premiere galt es, die Parameter für die Vorstellungen zu bestimmen, ein Prozess, in den neben den CyberRäubern und der Operndramaturgie auch die Technische Direktion, die Chefdisposition sowie die Leitung der Kasse involviert waren. In Zeitfenstern à 20 Minuten sollten immer vier Zuschauer:innen gleichzeitig die Möglichkeit haben, jeweils eine Folge à maximal 15 Minuten zu sehen. Die Karten für die Veranstaltung sind kostenlos. Die Zuschauer:innen müssen sich lediglich mit ihrem Namen an der Kasse anmelden.

April 2019 bis heute: Premiere und Vorstellungen

Die Premiere am 26. April 2019 war eine Präsentation des aktuellen Status quo. Da die vierte Episode (Wolfsschlucht & Ouvertüre) noch in Bearbeitung war, wurden dem Publikum die ersten drei Folgen präsentiert. Für die Premiere kam ein gemischtes Publikum aus geladenen Gästen und Kooperationspartner:innen sowie externen Zuschauer:innen. Auch in den folgenden Vorstellungsserien zogen die Episoden ein sehr diverses Publikum an: langjährige Opernabonnent:innen, die sich für das alternative Opernformat und einen unkonventionellen Blick auf den Freischütz interessierten, aber auch Erstbesucher:innen, die von der überschaubaren Dauer und den technischen Effekten angezogen wurden und durch Fragmente | Digital Freischütz einen niederschwelligen Zugang zur Oper fanden. In Nachgesprächen betreuten Mitarbeiter:innen des Theaters die Zuschauer:innen und konnten so wertvolle Erfahrungen und Rückmeldungen an die CyberRäuber weitergeben. Einiges Feedback fand so tatsächlich auch noch nach der Premiere seinen Weg in die Episoden.

Wie geplant ging Fragmente auf Tournee und war zwischen September 2019 und Juni 2020 im Rahmen von sechs Gastspielen bisher unter anderem in Helsinki, Hamburg, Stockholm, Bangok, Ludwigsburg und Berlin zu sehen. Darüber hinaus wurden auf internationalen Symposien wie ‚Opera Europa‘ sowie ‚Oper & Medienkunst‘ in Karlsruhe ebenfalls inspirierende Erfahrungswerte von Experten, aber auch Laien generiert. Wir haben den Eindruck gewonnen, dass die Unmittelbarkeit der Oper, die per se schon kulturelle und sprachliche Barrieren überwinden kann, von VR noch unterstützt wird und somit auf internationalem Niveau und auch bei unterschiedlichen Alters- und Bildungsgruppen Erfolg hat.

ANALYSE

Rückblick und Ausblick

Fragmente | Digital Freischütz war nicht nur für das Staatstheater, sondern auch für die CyberRäuber in vielen Bereichen Neuland. Folgende Techniken und Formate wurden zum ersten Mal ausprobiert und in einen professionellen Rahmen übertragen:

  • Interaktive VR auf Stand-alone Brille für ein gemeinsames Erlebnis für vier oder mehr Zuschauer:innen, das keine reine Aufnahme ist, sondern autonom gestaltet werden kann. Jede/r sollte selbständig und ohne Hilfe von zusätzlichem Material in der Lage sein, ihre/seine eigene Perspektive auf die Oper einzunehmen (Joystick und Kopfbewegung)
  • Medienforschung: Kreuzung aus hoch aufgelöstem Video und ebenso hoch aufgelösten 3D-Inhalten mit Oculus Go, sodass die Sänger:innen fotorealistisch in digitalen Bühnen präsent waren und in den 3D-Inhalten gleichzeitig noch interaktiv gearbeitet werden konnte
  • Ausreizung der technischen Möglichkeiten: Menge an digitalen Assets, Bühnen und Laserscannern, die am Ende in einer mobilen Brille umgesetzt wurden, die dadurch selbst an bestimmten Punkten an ihre Grenzen kam
  • Langformat von 40 Minuten, um umfassender und komplexer erzählen zu können
  • Serie, bzw. Episodenform: vier Episoden mit je ca. 15 Minuten Länge, die parallel von vier (oder mehr) Besucher:innen erlebbar sind
  • Musikdramaturgie: die Oper auseinandernehmen und dadurch die eigentliche Story und den gesamten (musikalischen) Spannungsbogen neu erzählen, ohne die Kernelemente der Oper zu verlieren, sondern ihnen im Gegenteil noch mehr auf den Grund zu gehen
  • Aufnahmen in kurzer Zeit: der Disposition geschuldete verkürzte Aufnahme- und Arbeitszeiten mit den Ensemblesänger:innen vor Ort, ein Tag mit der Badischen Staatskappelle, wenige Stunden mit dem Chor und jeweils einen halben Tag mit den Solist:innen, im Anschluss dann sehr viele Daten, die im Nachhinein in die Episoden eingebaut wurden
  • Kollektive Regie mit Sänger:innen: neuer Zugang zu szenischer Darstellung der jeweiligen Arien, der der Intimität und one-on-one Situation von VR mehr entspricht als dem Spiel über die Distanz auf der großen Opernbühne
  • Lebendige Orchester- und Gesangsaufnahmen: Gesamtaufnahmen mit unterschiedlich lokalisierten Mikrophonen und über 30 Spuren für räumlichen Sound
  • Räumlicher und alternativer Sound: Besucher:innen sollten nicht nur neue visuelle Eindrücke bekommen, sondern auch in der Lage sein, durch ihre Position andere Dinge zu hören
  • Neue Musik: Musik, die Webers Originalmusik aufnimmt und in die VR-Situationen überführt, die eigene Atmosphären schafft, die die einzelnen Parts innerhalb einer Episode, aber auch die Episoden miteinander verknüpft. Hier war die Zusammenarbeit mit dem Musiker und Komponisten Micha Kaplan sehr gut und wichtig
  • KI-generierte, assoziative Videoinstalltion im virtuellen Raum: Teil einer Episode waren Videos, die von einem machine learning-Algorithmus kreiert wurden.
  • Oper im Allgemeinen: Ensemblesänger:innen, Orchester, Chor, Repertoirestück

Zu den großen inhaltlichen Herausforderungen zählten für alle Beteiligten die Konzeption, also die Stückfassung, die es gemeinsam im Vorhinein zu entwickeln, aber auch kontinuierlich im Prozess anzupassen galt. Das Theater musste sich dabei auf die ungewöhnliche Chronologie der CyberRäuber einlassen, zuerst das Material zu generieren und im Anschluss in ein Setting zu setzen. Die CyberRäuber hingegen waren mit den doch verhältnismäßig starren Strukturen eines Staatstheaters mit dazugehörigem Ensemble- und Repertoirebetrieb konfrontiert. So war die tatsächliche Kooperation zwischen Haus und Kollektiv viel eingeschränkter, als eigentlich von beiden Seiten vorher gewünscht. Die Zusammenarbeit fand daher im Wesentlichen zwischen den CyberRäubern und der Dramaturgie statt. Auf dieser Basis entstand im Grunde die Konzeption, wurde die Umsetzung im Haus (Aufnahmen) sowie die konkrete Inszenierung (Installation im Foyer) begleitet und auch die Postproduktion bestritten.

Die generelle Idee der Kooperation und die damit verbundenen Erfahrungen sind dennoch als richtig und wichtig zu bewerten, da beide Seiten viel gelernt und sich auf dem jeweils neuen Terrain (Oper & Technik) weiterentwickelt haben. Von der Grundlagen- und Entwicklungsarbeit werden alle auch in zukünftigen Projekten und Zusammenhängen profitieren können.

Unmut entstand auf Seiten der Theatermitarbeiter:innen im Vorhinein oft, da sie von dem Projekt viel zu spät durch die Leitung erfahren haben und ihre Ressourcen eher kurzfristig umdisponieren mussten, so zum Beispiel bei Orchester, Chor, Ton/Video etc. Die CyberRäuber hingegen haben ebenfalls darunter gelitten, dass sie aus den oben genannten Gründen oft und manchmal vergeblich um Dinge kämpfen mussten, die eigentlich vorab zugesagt waren (Verfügbarkeit der Künstler:innen, Installation im Foyer ohne ausreichend Schallisolation, kollektive Probenphase, Titel). Teilweise entstand auf Seiten der CyberRäuber daher leider der Eindruck, dass die Doppelpass-Produktionen nicht auf Augenhöhe mit einer „normalen“ Inszenierung im Spielplan behandelt wurden, sondern als eine Art besonderes Medienprojekt, das in einer anderen Kategorie spielt. Sie fühlten sich oft eher als Dienstleister, der bestehende Erwartungshalten erfüllen muss, denn als veritable Künstler, die eigenen Gestaltungsspielraum und künstlerische Autonomie genießen. Da wäre von Seiten des Theaters mehr Rückendeckung, Vertrauen und auch Flexibilität wünschenswert gewesen. Das schien jedoch im Rahmen des gängigen Spielplans schwer möglich. Leider wurde eher ein kalkulierbares, funktionierendes Produkt erwartet, als Zeit und Raum für Innovation und Forschung zu gewähren. In Zukunft wäre eine Art Vermittlungs-Angebot oder Supervision von Seiten der Doppelpass-Beauftragten in so einem Fall womöglich hilfreich.

Der ursprüngliche Initiator Jan Linders bewertet Digital Freischütz im Großen und Ganzen positiv. Für ihn liegt der Erfolg in der intuitiven Funktionalität der Produktionen und in seiner Attraktivität vor allem für ein älteres Theaterpublikum, das die neue Technik, die ihnen eine alt-bekannte Geschichte erzählt, im geschützten Raum des Theaters ausprobieren kann. Es handelt sich für ihn um eine entschleunigte VR-Erfahrung, die nicht zu viel auf einmal will und pro Folge maximal ein bis zwei interaktive Effekte bereithält. Für die Besucher:innen bietet Digital Freischütz Nahbegegnungen mit Sänger:innen des Karlsruher Ensembles. Was wir als Theatermitarbeiter:innen aus den Proben kennen, wird für die Zuschauer:innen zur besonderen Erfahrung. Auch bezüglich einer internen Vernetzung hält er die Doppelpass-Kooperation für gewinnbringend: Mit dem Landestheater Linz als Partner gelang es, das Theater Karlsruher Theater mit der Ars Electronica und dem ZKM zu verknüpfen, was außerdem eine gute Übung für alle beteiligten Sänger:innen darstellte.

Trotz der Erfolge sieht jedoch auch Jan Linders einige Schwierigkeiten, die sich intern und extern im Rahmen der Zusammenarbeit aufgetan haben. Die Digital Freischütz-Aufführungen vor regulären Vorstellungen oder in den Pausen des Vorstellungsbetriebs konnten nur unter verhältnismäßig hohem Personalaufwand und mit Voranmeldung gestemmt werden. Intern ergaben sich zwangsläufig erste Reibungen durch die Konfrontation einer frei arbeitenden Gruppe und einem Staatstheater. Herausfordernd war dabei die dispositionelle Verankerung eines experimentellen Projekts ohne feste Spielstätte. Eine echte Zusammenarbeit auf Augenhöhe hätte mehr Begleitung und Unterstützung der Leitung, aber auch eine stärkere Präsenz der CyberRäuber in Karlsruhe im Sinne einer wirklichen Residenz bedurft. Auch das ZKM könnte in Zukunft noch mehr als Kooperationspartner, denn als Dienstleister gesehen und ins Boot geholt werden.

Die erste Opernarbeit im Allgemeinen und Digital Freischütz im Speziellen wurden hingegen im Ergebnis wiederum von beiden Seiten als sehr positiv wahrgenommen. Sobald die CyberRäuber auf die Künstler:innen (Sänger:innen, Dirigent, Tonmeister, Dramaturgie) trafen und in die direkte Arbeitsphase einstiegen, handelte es sich immer um sehr produktive und für alle inspirierende Ergebnisse. Die Produktion sowie die Rückmeldungen des Publikums hat allen Beteiligten Lust auf mehr gemacht.

Somit stehen nun folgende Fragen im Raum: Wie lässt sich das Pilotprojekt Digital Freischütz weiterentwickeln? Wie könnte ein solches Format mit Live-Musik und VR aussehen, etc.?

Die Expertise und das gegenseitige Verständnis, das beide Seiten – CyberRäuber und Staatstheater – sich über die Produktion hinweg erarbeitet haben, gilt es nun eigentlich in einer Anschluss-Produktion weiterzudenken und weiterzuführen. Über den Zeitraum der Zusammenarbeit haben sich neue Ideen und Visionen ergeben wie diese: Wie lässt sich das Gesamtkunstwerk Oper transparent erlebbar machen? Wie lassen sich nicht nur Sänger:innen, sondern auch Orchestermusiker:innen und Dirigent:innen sichtbar in die Inszenierung integrieren? Wie interaktiv kann eine Kunstform tatsächlich sein, also wie viel Autonomie können wir den Zuschauer:innen noch geben? Wie kann eine echte Einbindung solcher Stücke in einen Spielplan aussehen? Welche neuen Aufführungsorte eignen sich?

Dokumentation: Deborah Maier

Basierend auf Interviews mit: Jan Linders, Marcel Karnapke, Björn Lengers